Nach wenigen Minuten hatten sie die Gutmenschallee erreicht. Es war eine verkehrsberuhige, gepflegte und sehr ordentliche Straße, was Tim ein wenig beunruhigte, wo viele der dreigeschossigen, rotverklinkerten, tadellos sauberen Häuser doch diesem Verbrecher Wuchpreisinger gehörten.
Andererseits wohnte Gerda Glockner hier, und als Gabis Tante würde sie ja niemals in einem Glasscherbenviertel wohnen, das lag nicht in der Natur der Glockners, das waren mustergültige, ordnungsliebende Bürger. Gabi war das beste Beispiel dafür.
Vor Haus Nummer 7 parkte ein roter Kleinwagen der Marke Ökoranto mit Erdgasantrieb und mehreren Aufklebern am Heck, der, so folgerte Tim messerscharf, nur Gerda gehören konnte. Da war ein Aufkleber vom Tierschutzverein, einer der Baumfreunde Doovenstedt, ein Aufkleber der Stiftung für dumme, übergewichtige Kinder und natürlich ‚Ich bremse auch für Tiere‘ Ach wie schön, dass es solch gutherzigen Menschen wie Gerda gibt, dachte Tim. Jammerschade, dass sie von diesem Schuft Wuchpreisinger tyrannisiert wird, wir müssen ihr unbedingt helfen. Die Glocknerfamilie war immer gut zu uns, sogar zu Kloß, da ist es doch Ehrensache, dass wir helfen, denn wir…
„Tim?“
Tim fuhr aus seinen Gedanken hoch und sah, dass seine drei Freunde vor der Haustür standen und auf ihn warteten. Er rückte sein Polohemd zurecht und ging zu ihnen: „Na dann Freunde, schauen wir mal, was wir tun können“.
Vor der Tür stand die Ökotonne, aus der noch ein paar Pflanzenreste herausragten. Komisch, dachte Tim, das sieht aus wie Cannabispflanzen, und hier riecht es auch nach Haschisch. Na kein Wunder bei so einem Vermieter, und Gerda mittendrin. Da muss ich mal bei Gelegenheit aufräumen
Sie klingelten und aus der Gegensprechanlage ertönte ein warmherziges „Hallo Gabi, meine Liebe, ich habe euch schon über den Monitor kommen sehen“. Die Tür schnarrte, was Kloß erschrocken aufspringen liess, was für sich genommen schon ein interessanter Anblick war. „In welchem Stockwerk wohnt Deine Tante denn?“ fragte Kloß. „Keine Sorge Willy, sie wohnt im ersten Stock“ „Waaas? Na hoffentlich gibt es eine Fahrstuhl, sonst überstehe ich das nicht“, klagte Kloß.
„Willy, jetzt ist nicht die Zeit für blöde Witze. Dann bleibst Du eben hier und wir essen die Schokoladenkekse alleine“, merkte Tim an. „Na gut, wenn das so ist, komme ich natürlich mit“, lenkte Kloss ein. „Na dann ist ja alles in petto“, lachte Tim und gemeinsam gingen sie hoch, während Tim überlegte, ob nicht doch eher alles in Butter war.
Gerda erwartete sie an der Wohnungstür, zwar ohne Schokoladenkekse, wie Willy mißbilligend bemerkte, als er schweissgebadet die letzte Treppenstufe genommen hatte, aber dafür mit einem Lächeln, das die unglaubliche Familienähnlichkeit zwischen Gerda und Gabi noch unterstrich.
Als sie in die Wohnung gingen, fiel Tim ein ca. drei Millimeter langer Kratzer an der Türzarge auf. Sieh mal einer an dachte er sich, von außen hält er den Laden in Schuss, der liebe Herr Wuchpreisinger, aber im Innern lässt er alles verrotten, na warte!
Gerda führte die vier Freunde und Oskar ins Wohnzimmer, wo eine Flasche Fair-Trade-Mineralwasser und eine Flasche Sauerlichs bester Schokoladencola sowie vier Gläser bereitstanden. Kloß begann unruhig zu zappeln, bis Tim ihm einen Schlag auf den Hinterkopf verpasste, einen Denkanstoß, wie Karl es einmal bezeichntet hatte.
„Also Frau Glockner“, begann Tim, wurde aber von Gerda unterbrochen: „Ihr könnt mich Gerda nennen“. „Gerne, Gerda“, erwiderte Tim lächelnd. „Also, Gabi hat uns ja schon von Deinem Problem mit Wuchpreisinger erzählt und…“
Weiter kam er nicht, weil Kloß einwarf:“Naja, eigentlich nicht, nur dass Du bedroht wirst, aber nicht warum und von wem und…“
„Och Willy Du Kakaoraupe, kriegst Du denn gar nichts mit? Es geht um Wuchpreisinger, diesen Schuft“, fiel Gabi ihm ins Wort. „Richtig Gabi“, lobte Tim und gab ihr einen Klaps. „Also Gerda, bevor Willy hier vor Neugierde noch platzt, solltest Du mal ein paar Infos rüberwachsen lassen, was hat Wuchpreisinger Dir angetan?“
„Naja, angetan nicht, er hat…“ „…Dich bedroht, stimmt’s? “ vollendete Tim den Satz. „Nein, das auch nicht. Gabi hat Dir ja erzählt, dass ich keine Miete mehr zahle, weil ich ihn für einen Verbrecher halte“
„Ja genau“ antwortete Tim, „und? Hast Du Ihn bei einem Verbrechen beobachtet?“
„Nein, aber ich weiss, dass er Dreck am Stecken hat, ich täusche mich nie in einem Menschen“ „Klar, als geborene Glockner hat man sowas im Blut“, sprang Karl bei, woraufhin Gerda ihn anlächelte. Dann fuhr sie fort:“Dazu kommt noch, dass er darauf besteht, dass ich den Mietvertrag verletze, weil ich im Keller, ähm, exotische Pflanzen züchte“
„So ein Schuft“, zischte Gabi, nur weil Du ein paar Blumen züchtest. „Ach, das sind schon ein paar mehr, die brauchen viel Wasser und viel Licht“, erläuterte Gerda, „und auf dem Balkon ist nicht soviel Platz.“
„Und warum macht Wuchpreisinger soviel Aufhebens darum?“, wollte Tim wissen. „Nun ja, ich verarbeite die Pflanzen weiter zu… Naturheilmitteln“
„Ach deswegen riecht es hier so süßlich“, lachte Tim auf, „und ich dachte schon, dass hier im Haus jemand Haschisch aufbewahrt“
Gerda lachte nervös auf, „ja-haha, das denken viele, aber es handelt sich hierbei um eine sehr seltene Pflanze namens Rauschdiewandanie, die…“
„Komisch“, warf Karl ein, „von dieser Pflanze habe ich noch nie gehört, ich werde mal kurz im Internet…“ „Warte bis nachher Karl“, meinte Tim, „wir haben keine Zeit, wir müssen uns mal Gerdas Mietvertrag ansehen“
Gerda hatte den Mietvertrag bereits auf dem Wonhzimmertisch bereitgelegt, Tim las ihn durch und spürte, wie die Wut in ihm immer stärker wurde, es handelte sich um einen Standardvertrag, einen Standardvertrag, und das für eine Glockner. Jetzt war ihm klar, dass Wuchpreisinger böses im Stecken führte. Es heisst im Übrigen Schild, schreckte ihn wieder die Stimme im Hinterkopf aus seinen Gedanken. „Ja doch, verdammt noch eins!“, rief er auf. Seine Freund blickten ihn erstaunt an.
Auch Karl, der ziemlich verwirrt von seinem SchinkenPhone aufblickte: „Hey Tim, was ist denn los?“
„Dieser Mistkerl hat Gerda so einen aalglatten Standardvertrag aufgeschwatzt, er hat den Umstand, dass sie eine Frau ist, schamlos ausgenutzt. Und…“
„Ähem, Tim“ meldete Kloß sich zu Wort, „hattest Du nicht nach Deiner letzten Therapie gesagt, dass sich Dein Frauenbild mittlerweile verändert hat?“
„Hat es doch, Kloß, Frauen sind großartig und absolut gleichberechtigt. Und deswegen müssen sie beschützt werden, damit…“ Gabi seufzte, wie so oft in den letzten zehn Jahren. „So, genug gealbert“, Tim sprang auf. „Karl, Was hast Du mittlerweile recherchiert?“ „Ich habe versucht, über die Rauschdiewandanie Informationen zu erhalten, aber nichts gefunden, irgendwie…“ „klingt das wie ein Tarnnname für Cannabis, Ha-ha-ha“ beendete Kloß den Satz.
„Sehr witzig“, fuhr Tim ihn an, nur helfen Flachwitze uns gerade überhaupt nicht weiter. Gerda?“ Gerda, die ein wenig bleich geworden war, schreckte auf: „J…ja, Tim?“ „Wir haben leider nichts gegen Wuchpreisinger in der Hand, aber wir bleiben am Ball, versprochen! Kommt Freunde, wir gehen!“
Die Freunde verließen die Wohnung und gingen in eine nahegelegene Milchbar, um sich zu beratschlagen.
In der Milchbar bestellten Tim und Gabi Milch aus nachhaltigem Anbau, Karl eine Magnesiummilch und Kloß eine 5- Liter-Kanne von Sauerlichs bestem Kakao. Dann fasste Tim zusammen: „Also Freunde, wir haben nichts gegen Wuchpreisinger in der Hand, der Typ ist schleimig und hat scheinbar eine blütenweiße Weste. Mit normalen legalen Mitteln kommen wir nicht weiter und…“ Gabi räsperte sich und meinte „Ähm, Tim? Mit normalen legalen Mitteln arbeiten wir in der Regel doch nicht, denn unsere normalen Mittel sind durchaus nicht legal.“ „Richtig, Pfote“, erwiderte Tim lächelnd, „aber hier geht es um einen höheren Zweck, und der heiligt bekanntlich die Mittel. Erinnert euch nur an diesen Rockertypen neulich, der mit Tempo 51 durch die Rumpelgasse gerast ist. “
Vor vier Wochen hatte Tim diesen liederlichen Lumpen mit einem Roundhouse-Kick von seinem Feuerstuhl geholt und beinahe eine Massenkarambolage im dichten Berufsverkehr verursacht. Dem Rocker war außer ein paar Platz- und Schürfwunden und einer verstauchten Hand nichts geschehen, trotzdem hatte er Tim als Rüpel beschimpft und nach einem Krankenwagen und der Polizei gerufen. Das kam tim nur recht, denn asoziales Gesocks gehört eingesperrt. Erstaunlicherweise wollten die Polizisten seine Personalien aufnehmen, nachdem sie ihn von dem Rocker heruntergezerrt hatten, gerade als er dafür sogren wollte, dass sich der Rettungseinsatz auch lohnte. Nur Tims enormer Respekt vor der Obrigkeit hatte verhindert, dass die beiden Polizisten dieser Rockertype Gesellschaft leisten mussten. Zudem war er mit seinem schwarzen Karateanzug und der Ninjamaske ja nun wirklich nicht so leicht zu erkennen gewesen. Nachdem Kommissar Glockner, der zufällig gerade im Dezernat für Straßenbrutalität Dienst tat, die Sache aufgeklärt hatte, konnte der Rocker abtransportiert werden und seiner gerechten Strafe entgegenblicken.
„Stimmt natürlich“, gab Gabi zu, Karl und Kloß nickten beifällig. „Nachdem das nun geklärt ist, stellt sich die Frage, was zu tun ist. Ich würde vorschlagen, nachher sein Büro in der Schattenlumpstrasse mal genauer unter die Lupe zu nehmen. Aber vorher müssen wir nochmal in die Heldengasse, die Geranien gießen. “ „Ach, das passt ganz gut“ meinte Gabi, „Karl und ich müssen noch für eine Studienarbeit über das Balzverhalten höherer Lebensformen recherchieren.“ Meine Pfote dachte Tim stolz, klug, fleiß und schön zugleich, genau wie ich. „Also los Freunde, auf zur U-Bahn, leider gibt es hier ja keinen Fahrradverleih, sonst könnten wir die 15 Kilometer radeln“ Kloß, der beim Wort ‚Fahrrad‘ erschrocken den Kopf von seinem Doppelsahne-Schoko-Dessert erhoben hatte, atmete erleichter auf. Nachdem er bezahlt hatte, gingen die vier Freunde zur U-Bahn.